Birgitta Wolf - Nachruf von Gero Lenhardt Zurück zur vorhergehenden Seite Zur Startseite (Übersicht) Weiter zum nächsten Thema

Liebe Monica, lieber Peter, lieber Michael, liebe Angehörige, Freunde und Mitstreiter, verehrte Damen und Herren,

Wir haben uns versammelt, um den Tod Birgitta Wolfs zu betrauen. Monika und Michael haben mich gebeten, dazu etwas zu sagen. Seit unserer Jugend sind wir Freunde, und Birgitta bedeutet mir sehr viel.

Sie erlag einem sanften Tod. Familie und Freunde sorgten sich um sie. So hat sie sich auch dann noch sicher und geborgen gefühlt, als ihre Körper- und Geisteskräfte schwanden. Ihre Angehörigen trugen zu ihrer Betreuung bei, so gut wie ihre Umstände es zuließen. Die Arbeit lag aber vor allem bei Frau Wawacek. Sie war nicht immer einfach, denn das Alter kann schwierige Menschen aus uns machen. Fünf Jahre lang hat Frau Wawacek Birgitta hingebungsvoll und zuverlässig betreut. Davon hat Michael stets mit viel Anerkennung und Dankbarkeit berichtet, wenn er von seiner regelmäßigen Pflegewoche bei der Mutter nach Kärnten zurückkehrte. Nancy Armstrong begleitete Birgitta bis zuletzt; sie war ihre engste Freundin.

Birgitta ist noch vor im alten Europa vor dem Ersten Weltkrieg in Schweden geboren. Dort ist sie aufgewachsen inmitten einer großen Familie, in einem stattlichen Schloss, umgeben von erlesenen Möbeln und Gebrauchsgegenständen, von Jagdtrophäen und anderen Requisiten der heroischen Kultur des Adels. Das Schloss war auch düster. Diese Welt bedeutete ihr viel, und sie ist später immer wieder dorthin zurückgekehrt. Nach einem Sprachenstudium in Genf heiratete sie mit 20 Jahren Albert Nestler und folget ihm nach Deutschland. Sie wohnen zunächst in Süddeutschland und zogen dann nach Berlin. Drei Kinder wurden geboren: Christel, Carin und Peter.

Als Monica zur Welt kam, da lebte die Familie bereits in Grainau. Dorthin war sie bei Kriegsausbruch gezogen. Berufliche Notwendigkeiten ließen es nicht zu, dass Albert bei ihnen blieb. So hatten sie wenig Zeit zum Bau eines gemeinsamen Lebens. Die Ehe zerbrach. Birgitta heiratete Julius Wolf, und Michael erblickte das Licht der Welt. In ihrem langen Leben folgten den Kindern Enkel und Urenkel.

Ein paar Jahre nach dem Ende des Kriegs baute sie mit Julius ein neues Haus. Aber die Lebenspläne, die die beiden damit verbunden hatten, scheiterten, und sie trennten sich. Das Schicksal hat es so gewollt, dass Carin im Jahr 1952 im Alter von nur 17 Jahren starb. Das Kind zu überleben, war der Mutter ein großer Schmerz. Sie hat davon oft gesprochen. Auch Christel ist vor ihrer Mutter gestorben, wenn auch in einem viel höheren Lebensalter als Carin.

Nach ihrer Trennung von Michaels Vater führte Birgitta das Haus alleine. Sie machte Vieles daraus, viel Widersprüchliches und alles gleichzeitig:

Ihr Haus war Pfadfinderlager mit Naturromantik und Salon für intellektuelle Auseinandersetzungen. Klampfe und Konzertflügel wechselten einander ab. Man diskutierte viel. Sie hatte Freude an Kontroversen, es kam dabei nur auf die Ernsthaftigkeit des Gedankens an und auf die Bereitschaft, einander zuzuhören. Vielen war das neu, denn damals galten Konformität noch als Wert und kritische Diskussionen als Gezänk.

Ihr Haus war zugleich Zuflucht für stadtmüde Pensionsgäste und für straffällig Gewordene. Die kulturelle Spannweite zwischen beiden Subkulturen ist offenkundig beträchtlich.

Vor allem aber war das Haus der Ort, an dem Monika und Michael heranwuchsen. Christel und Peter lebten in der Nähe ihres Vaters und besuchten die Mutter, wenn immer möglich.

Ein anregenderes Zuhause als das von Monica und Michael kann man sich kaum vorstellen. Die antiautoritäre Erziehung war dort lange eine Selbstverständlichkeit, bevor sie Mitte der 1960er Jahre zu einem öffentlichen Thema wurde. Genau genommen ist nicht von Erziehung sprechen, sondern von freimütigem Umgang zwischen Mutter und Kindern.

Das eigentliche Familienleben war kaum getrennt von dem ausgedehnten Gemeinschaftsleben, das im Haus so intensiv pulsierte. Intimität, die Kindern ja auch Schutz bietet, war hier bisweilen prekär. So war dieses Zuhause nicht immer einfach.

Birgitta hat auch sonst zwischen ihrer persönlichen und ihrer gesellschaftlichen Existenz kaum unterschieden. Sie stand für das, was sie tat, mit ihrer ganzen Person ein. Dass ihre Zuwendung stets ungeteilt war, war faszinierend. Mit ihrer starken Präsenz rückte sie leicht in den Mittelpunkt. Es konnte dann sein, dass den anderen nur wenig Raum blieb und ihr nur wenig Gelegenheit, deren Zuwendung zu spüren. Sie konnte sich jedenfalls auch sehr einsam fühlen.

Auf die jungen Leute, die in ihrem Haus zusammenkamen, traf das Wort von der Gnade der späten Geburt zu. Birgitta hatte ein anderes Los gezogen, ein belastenderes. Familiäre Umstände hatten sie in die unmittelbare Nähe führender Nationalsozialisten gerückt. Davon hatten wir vage Vorstellungen, sie haben uns aber nicht beunruhigt. Denn sie war mit ihrem leidenschaftlichen Sinn für Klarheit und Menschenwürde als Anhängerin des Nationalsozialismus offenkundig gänzlich ungeeignet. Das war entscheidend und bedurfte keiner Diskussion. Verirrungen, denen sie in jener grauenhaften Zeit erlegen sein mochte, konnten dagegen nichts besagen. Wir haben uns jedenfalls an das gehalten, was wir sahen und was wir uns als befreiende Erfahrung zueigen machen wollten. Unsere Unbefangenheit lässt mich heute denken, dass es auch eine Weisheit der Jugend gibt.

Seit den frühen 1950er Jahren engagierte sie sich für Straftäter. Auch ihnen galt ihre ungeteilte persönliche Zuwendung. Sie nahm viele bei sich zuhause auf. Vielen half sie mit ihren sozialen Beziehungen weiter. Anderen machte sie Mut mit Besuchen, Päckchen und Briefen, die sich über die Jahre hinweg zu tausenden addierten. So hat sie viel Not gelindert, Hoffnung und Zuversicht gestärkt und vielen den Weg in eine glücklichere Existenz geebnet.

In direkten Gesprächen, in Vorträgen, im Fernsehen und als Autorin zahlreicher Bücher und Artikel weckte sie die Einsicht, dass der scheinbar so abseitige Strafvollzug jeden etwas angeht. Sie nahm es mit Amtsinhabern jeglichen Rangs und jeglicher politischen Couleur auf, von Gefängnisdirektoren bis hin zum Bundespräsidenten. Ihr Sinn für die einschüchternden Symbole staatlicher Macht war schwach entwickelt. Ich habe sie einmal zum Innenministerium der DDR in Ostberlin gebracht. Dort drang sie ohne Anmeldung ein und überwältigte die bewaffneten Staatsorgane sowie den Minister in einem charmanten Handstreich.

Ein Erfolg ihrer Arbeit zeigt sich auch im Verhältnis, das die Öffentlichkeit zu ihr entwickelte. Zunächst war sie ausgegrenzt und in vielfältiger Weise bedroht worden. Ihre zahlreichen Besucher weckten Ängste um Sicherheit und Eigentum. Straffällige galten damals häufig noch nicht als Bürger, sondern konnten die bürgerlichen Ehrenrechte verlieren. Birgitta, die so viele Konventionen in Frage stellte, verdächtigte man terroristischer Neigungen, kryptokommunistischer Umtriebe und vieles anderen, was die phantasievollen Phobien der damaligen Zeit erfanden. Überraschend war das nicht. Der Nationalsozialismus mit seinem misstrauischen Menschenbild und seinen moralischen Erschütterungen lag noch nicht lange zurück.

In der Rückschau sieht es so aus, als sei Birgitta der Gesellschaft als Prüfung auferlegt worden. Die Prüfung brachte eine erfolgreiche Bewährung hervor. In der Öffentlichkeit wuchs das Verständnis für ihre Arbeit. Dieser Lernprozess materialisierte sich in Medaillen und Ehrungen. Besonders gefreut hat sie sich über die Bürgermedaille aus der Hand des Murnauer Bürgermeisters und über die Goldmedaille für Verdienste um Oberbayern. Diese und viele andere Auszeichnungen waren zugleich eine wertvolle Unterstützung ihrer Arbeit. Ihre größte Anerkennung bestand aber gewiss darin, dass sie immer mehr Mitstreiter fand. Sie gründeten mit ihr schließlich die Nothilfe und setzen die angefangene Arbeit auf ihre Weise fort.

Was hat sie, so möchte ich zum Schluss fragen, zu ihrem ungewöhnlichen Wirken motiviert und womit hat sie so viele von uns fasziniert? Eine Antwort auf diese Fragen findet man bei ihren typischen Redeweisen wie z.B. derjenigen: „Aber er hat doch einen guten Kern“. Damit kommentierte sie, wenn einer aus ihrem großen Kreis abermals straffällig geworden war oder abermals eine Chance vertan hatte, sich und seine Verhältnisse zu bessern. Mit dem einleitenden Aber bekräftigte sie ihre Zuversicht und wehrte Kleingläubigkeit ab.

Sie variierte das Bild vom guten Kern in den vielfältigsten Formen. Wenn sie den Besuch eines gerade Entlassenen ankündigte, kam sie oft auch auf dessen Delikte zu sprechen. Gleichviel wie scheußlich sie waren, sie schloss mit der enthusiastischen Versicherung: „Er ist ein wunderbarer Mensch, den musst unbedingt kennen lernen.“ Davon war sie zutiefst überzeugt. Naiv gegenüber menschlicher Schwäche war sie nicht. So achtete sie z.B. stets darauf, dass ihr Zimmer in ihrer Abwesenheit verschlossen war.

Sie fand, dass auch ich einen guten Kern hätte. Das hatte mir bis dahin noch keiner unterstellt. In dem kleinen Ort, in dem ich aufgewachsen war, ging niemand von der Existenz guter Kerne aus. Die Kirche hatte uns nicht als Kinder Gottes behandelt, denen ihr Schöpfer Gewissensfreiheit und seine Gnade verliehen hatte, sondern als unmündige Sünder und Knechte eines strafenden Gottes. Einen guten Kern unterstellte man auch in der nahe gelegenen Kreisstadt niemandem. Im Gymnasium, das ich dort besucht hatte, glaubte man an natürliche Begabung und vor allem an Begabungsmängel, und stufte die damit Geschlagenen auf weniger würdevolle Schulzweige herab. Von den deprimierenden Menschenbildern, die hier und auch sonst in der Gesellschaft dominierten, stach Birgittas optimistisches also scharf ab.

Diesem Menschenbild entsprach, dass sie ihr Engagement nicht als Selbstaufopferung verstand, sondern als Selbstverwirklichung. Sie erschöpfte sich nicht darin, sondern gewann Stärke daraus. Deswegen war sie so vital und heiter. Sie lachte mit freundlichem Spott über die Selbststilisierung der „armen Guten“, die Tugend durch die Klage vergrößern oder ersetzen: „Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich“.

Birgitta glaubte auch nicht an asketische Selbstverleugnung. Sie war ein sinnlicher Mensch. Sie ging von den Bedürfnissen des Einzelnen aus und hatte auch ihre eigenen Bedürfnisse im Auge. Sie war überzeugt, dass Tugend und Interesse zusammen kommen können und zusammen kommen sollen. Deswegen war ihr Engagement frei von stickigem Moralismus und verbissener Zwanghaftigkeit.

Wie kann man aber wissen, dass jeder einen guten Kern hat. Die Forschung kann einem diese Gewissheit nicht verschaffen, sie widerlegt allerdings die Vorstellung, es müsse jeder so bleiben, wie er ist. Wendet man die Sache hin und her, dann gelangt man zu dem Ergebnis, der Glaube an den guten Kern ist utopischen Charakters und wurzelt letztlich in der christlichen Tradition. Er entspringt der biblischen Vorstellung von der Gottesgleichheit der Menschen. Danach können wir vernünftig und autonom handeln, wenn wir es wollen. Ob wir es wollen, entscheiden wir selbst. Ohne diese Überzeugung verfehlen christliche Religion und Demokratie ihre Bestimmung.

Birgittas Glaube an den guten Kern ist also keine sektiererische Wahnvorstellung, sondern eine Utopie. Sie bestätigt sich, wenn sie praktiziert wird. Birgitta hat diese Utopie dem Trübsinn vorgezogen, der sich als Realismus versteht und niemandem etwas Gutes zutraut und auch selbst nichts Gutes will. Ihr menschenfreundlicher Glaube war ansteckend und viele wollten sich davon anstecken lassen. Deswegen muss er mit ihrem Tod nicht enden.